Camp 184 Soulac

Zweiter Weltkrieg und Gefangeneschaft-Horst Fussöller

Es gehörte zum Depot 184, Bereich Soulac s/mer, und hatte die Bezeichnung Kdo. 4/5, gelegentlich auch bezeichnet als 3/3o7. Es war ein Barackenlager mit insgesamt 350 Gefangenen. Die Gebäude waren länglich und beherbergten immer eine komplette Arbeitsgruppe. Unsere Gruppe hatte die Bezeichnung Nr. 5.

Das Lager lag etwa 200 Meter vom Strand entfernt; rundherum standen Kiefernbäume, wie sie ja auf dem sandigem Boden der „Landes“ besonders gut gedeihen.

Wir hatten eine Schwengel-Pumpe, mit der wir uns das jeweils benötigte Wasser,. zum Trinken und Waschen hochpumpen mußten. Sie stand mitten zwischen den Baracken im sandigen Boden. Durch die Nähe des Meeres war das Wasser immer etwas salzig, jedoch noch gerade trinkbar.

Eine der Baracken war mit Offizieren belegt, die aber keine schwere körperliche Arbeit zu verrichten brauchten. Dann gab es die Baracken für die Küche und für alle Utensilien, die zum Deminieren benötigt wurden. Außerhalb des mit Stacheldraht umzäunten Geländes stand noch ein villenähnliches Gebäude für den Lagerchef, der aber kein Militär war. Und es gab noch eine Sonderbaracke, die für die Wachmannschaften und Soldaten reserviert war.

In den Baracken für uns Gefangene standen aus Brettern und Kanthölzern zusammengehämmerte Etagenbetten. Doch vor der Inbesitznahme der Kojen fand zunächst die Verlosung statt. Danach stand es fest, wer oben und wer unten schlief. Spinde oder Ähnliches gab es nicht. Das Wenige,

page1image65404480page1image65318336page1image65328768page1image65333568

das wir mit uns führten, hing an den hölzernen Bettgestellen an Nägeln oder kreuz und quer in der Baracke herum. Daß die Lage für uns hier ernst werden sollte , erfuhren wir bereits 2 Tage nach der Einquartierung am Samstag, den 25. Mai. An diesem Tage erwischte es doch 3 unserer Holzfällerkameraden, die beim Hochgehen eine S-Mine (Springmine) schwer verletzt wurden. Holzfällerkommandos waren hier notwendig, da in den zu entminenden Wäldern oft nicht nur Bamverhaue zu entfernen waren, sondern es mußte auch ständig für den Nachschub an Brennholz für die Küche gesorgt werden.

Gerade die Baumverhaue waren tückische Verstecke von Minen, meistens von Stockminen. Die Stockminen bestanden aus etwa 30 cm hohen Betonkegeln, welche in der Mitte ein etwa 3 cm breites Loch hatten. In dieses Loch wurde eine Dynamitstange hineingeschoben, oben meistens mit einem Zugzünder versehen und unten als Gegenlager für den Sprengstoff mit einem gleich starken Stock in den Waldboden eingesetzt. Nun brauchte man nur noch einen dünnen, möglichst optisch unauffälligen Draht zwischen dem Zugzünder und irgendeinem Baum oder Busch in Kniehöhe zu spannen, und fertig war eine höllische Falle. Kam man an den Draht, so daß er sich spannte, so wurde der Sicherungsstift aus dem Zünder herausgezogen und gab den Schlagbolzen frei. Dieser zündete das Dynamit im Inneren des Betonkegels, so daß die Betonstücke wie Geschosse rundum flogen und alle in der Nähe Stehenden schwer verletzten oder gar töteten.

Da die Minensperren zum Schutz von Bordeaux schon seit vielen Jahren installiert waren und sich in dieser Zeit das Buschwerk stark entwickelt hatte, wurden die Drähte zu den Minenzündern durch wachsende Zweige nicht nur angespannt. Es kam sogar öfter vor, daß bei geringer Bewegung durch Wind, das Buschwerk selbst Detonationen auslöste. Hier in den verwucherten Wäldern, verseucht mit hunderttausenden, meist blind verlegten Minen (ohne Pläne), waren wir also gefordert, das Gelände wieder betretbar zu machen. Da unsere Gruppe 5 aber erst am 5. juni die eigentliche Minensuche begann, soll vorweg noch etwas über das neue Lagerleben berichtet werden.

Die Verpflegung bestand aus täglich einer Scheibe Brot und immer dem gleichen Abendessen, einer 3:4 Lt. lila-braunen Suppe, hergestellt ans Wickensamen. Diese Frucht sieht aus wie Linsen, doch sind sie nicht platt, sondern rund. Immerhin erwiesen sich die Wicken als ein besserer Magenfüller, als wir es bisher mit Kraut-oder Möhrensuppen gewohnt waren (nach Meyers Lexikon 7. Auflage von 1930 stehtunterWicke,Seite 699:“Futterwicke oder Viscia, die Körner werden allem Vieh mit Begierde gefressen“.

Genügend war die Verpflegung natürlich immer noch nicht. So sann man schon jetzt darauf, wie man die Menge, darauf kam es vorerst nur an, vergrößern konnte. Die altbekannten Brotwaagen mußten selbstverständlich auch hier ihren Dienst tun, war es doch wichtig, daß kein Mißtrauen unter den Kameraden emporkam.

Das Freizeitleben nahm hier mannigfaltige Formen an. So wurde Unterricht in Fremdsprachen, Deutsch, Mathematik etc. angeboten. Besonders tat sich hier wiederum unser Kamerad Dr. Walter Steger hervor, der dies alles gekonnt schulisch aufzog. Auch Wilhelm Bornemann, ein Studienrat aus Usingen, bei dem ich sogar ein paar Stunden Russisch genommen hatte, beteiligte sich am Unterrichten.

Unsere Gruppe war um die 20 Mann stark. Das gesamte Lager enthielt, wie schon erwähnt, um die 350 Gefangene, die Offiziere nicht inbegriffen. Wir hatten auch hier einen deutschen Lagerchef, außerdem einen sogenannten „homme de confiance“, der so etwas wie ein Verbindungsmann zwischen den Kriegsgefangenen und der französischen Seite war. Diese wurde repräsentiert in Person eines nicht mehr jungen Mannes; ich nehme an, daß es ein Franko-Schweizer war. Er war es auch, der allmorgendlich den Zählappell abnahm und dann mit staksigen Schritten, roboterhaft, an den aufgestellten Gruppen vorbeiging. Warum wir ihn KOLLO nannten, weiß ich nicht mehr.

Es nahte Donnerstag, der 30. Mai. Es war Christi Himmelfahrt. In meinem Kalender ist ein zerbrochener Steinblock mit der Inschrift, „Zweifel“ eingezeichnet, die Enttäuschung andeutend, die uns zermürbte. Das

Lagergespräch: „Es werden Leute entlassen“, wurde dann wieder schnell als Latrinenparole entlarvt. Nichts wurde daraus. Und diese Fälle von Hoffen und Enttäuschung drückten uns immer schwerer. Klar, daß man auch an einer göttlichen Gerechtigkeit zu zweifeln anfing. Ob jung oder alt, in unserer Zwangsgemeinschaft waren zwischen 16- und 45 jährige , und wir alle begannen nun langsam die Welt nicht mehr zu verstehen.

Mittwoch, der 5. juni nahte und wir gingen erstmals ins Gelände nach Empfang der notwendigen Gerätschaften. Dazu gehörten ein Detektor, Stichsägen, Beile und für den Notfall auch eine lange, spitze Metallsonde, außerdem einige einen Meter lang Holzstäbe und viele Meter aufgewickeltes Trassierband zum Markieren von Absperrungen.

Die Gruppen waren auf bestimmte Sektoren des bewaldeten Geländes eingeteilt. Wir hatten das Feld N zur Entminung erhalten. Begleitet bzw. bewacht wurden wir von einem Marokkaner, der keine Uniform, sondern Zivilkleidung trug. Bewaffnet war et mit einer alten Flinte von undefinierbarer Herkunft, stets lässig auf dem Rücken getragen. Wir hatten wenig Kontakt mit den Bewachern, denn wir beherrschten ja nicht die französische Sprache. Ich selbst, der ich ja seit „Golf‘ ein kleines französisches Lexikon besaß, nutzte natürlich jede Möglichkeit, uni darin zu blättern und Wörter auswendig zu lernen, und hin und wieder versuchte ich das Erlernte Bewacher zu probieren.

Das Entminen in dem unwegsamen Gelände ging folgendermaßen vor sich: Von einer Schneise oder einem Waldweg aus, jeden Schritt vorher sorgsam mit dem Detektor geprüft, wurde erst einmal mit Stangen die Breite des zu durchsuchenden Geländes markiert. Dann tasteten wir uns mit dem Detektor ins Gelände hinein, und zwar von links nach rechts ganz nahe über dem Boden wedelnd. Nicht mehr als einen halben Meter tief je Bahn suchten wir so täglich viele hundert Bahnen machend, hin und hergehend ab. Nach jeder abgesuchten Bahn wurden mit Trassierband immer die Seitengrenzen und die Tiefe des deminierten Geländes markiert, um so den nachfolgenden Kameraden anzuzeigen, in welchem Bereich sie sich gefahrlos bewegen konnten. Deren Aufgabe war es dann

im minenfreien Gelände das Buschwerk und kleine Bäume zu entfernen und auf einen Haufen zu sammeln. Die Kameraden, die nicht mit dem Holzwegräumen und dem Deminieren beschäftigt waren, saßen teilweise lässig herum oder transportierten die ausgebuddelten Minen nach rückwärts, wo diese an der Schneise oder dem Waldweg sicher deponiert wurden. So mühten wir uns den ganzen Tag lang, von rechts nach links, von links nach rechts mit dem Detektor wedelnd.

Der Abschnitt N hatte es aber in sich. Nicht nur 2 Baumverhaue waren enthalten, natürlich mit darin versteckten Minen, sondern wir kamen an eine große Fläche, in welcher der Detektor fast einen Dauerton abgab. Wir waren in einen Bereich gestoßen, wo früher wohl einmal ein Schienenweg für eine kleine Bahn gewesen war. Der Boden war übersät mit Schrauben, Bolzen, Muttern und sonstigen Metallstücken. Hier mußten die Detektoren beiseite gestellt werden. Nun ging es mit den Sonden ans Stochern. Alle 5 cm im Geviert mußte nun der Boden systematisch durchstochert werden, dies natürlich weder zu fest, noch durfte man aus dem Auge lassen, daß eventuell Panzerminen zusätzlich durch Stockminen und Zugdrähte gesichert waren. Panzerminen fanden wir hier keine, doch wurde eine Menge Stockminen unschädlich gemacht. Alles, was so am Tag an Minen gefunden wurde, transportierten wir jeweils abends vom Zwischenlager zu einer bestimmten Hauptsammelstelle.

An diesem Gelände sollten wir bis zum Samstag, den 13. juli voll beschäftigt sein. Der Juni brachte mir noch 2 Briefe und 1 Päckchen von zu Hause.

Sonntag, der 9. juni war mein zweites Pfingsten in Gefangenschaft, und am Freitag, den 28. hatte ich dann meinen 21. Geburtstag. daß wir am Sonntag, den 14. juli, dem Nationalfeiertag der Franzosen, nicht zu arbeiten brauchten, war klar. Es war halt für unsere Bewacher ein Feiertag, wovon wir aber mit profitierten. 2 Tage später, am Dienstag, den 16., ereignete sich wieder ein Unglück. Bei der Explosion einer Stockmine wurde ein Kamerad verletzt. Das Unglück geschah nicht in unserer, sondern in einer anderen Gruppe. 4 Briefe erhielt ich lm juli von daheim,

davon 2 von meiner Schwester Josi.
Am Donnerstag, den 18. begann unsere Gruppe mit dem Feld X.

Es gab übrigens keinen Tag, an dem wir nicht Dutzende von Minen orteten, hoben und entschärften. Sie wurden dann von der Hauptsammelstelle jeweils von einem Sonderkommando der Kriegsgefangenen an den Strand gebracht, um dort durch Sprengung vernichtet zu werden. Dies geschah bevorzugt bei Ebbe. Der Grund dafür war, weil wir herausgefunden hatten, daß bei Flut gelegentlich ein Fisch in dem mit Wasser gefüllten Sprengtrichter landete, der dann bei Ebbe herausgefischt in einem unserer Kochtöpfe endete. Dies war aber nicht das Einzige, was wir zur Aufbesserung unserer Verpflegung taten. In dem von uns entminten Gelände gab es sehr viele Brombeeren und Pilze. Das Wichtigste aber war für uns daß es immer wieder Kaninchenhöhlen gab, und vor diesen setzten wir dann Metallschlingen an. Manches Kaninchen trug so zu unserer verbesserten Ernährung bei. Es landete dann abends in den Kochtöpfen in unseren Baracken. Doch nicht nur Kaninchenfleisch wurde von uns sehr geschätzt. Kollo, unser Lagerboss hatte einen kleinen schwarzen Hund doch irgendwann kam er abhanden. Wie ich wußte, ist auch der arme Kerl dem Hunger der Kameraden zum Opfer gefallen.

Wie sehr trotzdem mancher noch von Hunger geplagt wurde, soll nachfolgend beleuchtet werden. Franz Kressierer, auch er war wieder unter uns und gehörte zu unserer Baracke, sammelte stets kräftig Brombeeren und Pilze. Wir waren sehr erstaunt, als wir eines Abends erlebten, daß Franz sich mit der üblichen Wickensuppe eine Sondermahlzeit hergestellt hatte. Sie bestand aus einer Beimischung von einem Salzhering, einer Scheibe Brot, Pilzen und Brombeeren, alles in einem Eimer, der 5 Lt. Masse enthielt. Nach einer Stunde hatte Franz sich sein Gericht einverleibt. Er war zufrieden, denn et war wohl endlich einmal richtig satt geworden.

Der Monat August brachte mir eine Menge Post. Es waren 8 Briefe und 5 Päckchen, die selbstredend Fressalien enthielten.

Am 5. August jährte es sich zum zweiten Mal, daß ich von zu Hause weg war. Wesentlicher ist jedoch, daß mit dem August eine Welle von Lagerausbrüchen begann, welche fast 6 Wochen lang anhalten soltte. Es handelte sich um 11 Ausbrüche, bei denen etwa 42 Kameraden das Weite Suchten. Bis auf 4, die gefaßt wurden und wieder bei uns landeten, gab es von allen anderen aber keine Nachricht mehr. Wer bei oder nach der Flucht gefaßt wurde, wanderte zunächst in den Bau, in unserem Lager ein separater Barackenraum ohne Fenster. Aber die Abschreckungsmaßnahmen gingen soweit, daß alle einer Gruppe, aus welcher jemand getürmt war, Glatzen geschoren bekamen.

Auch die Unglücke durch Minenexplosionen nahmen zu. An Maria Himmelfahrt, Donnerstag, 15. August, gab es 2 Verwundete durch eine explodierende Stockmine und am Freitag, den 23.ochmals 2 Verwundete durch dieselbe Minenart. Übrigens ergab eine Statistik unseres lagers, daß bis zum 23. August 1946 genau 33.333 Minen seit dem 24.9.1945 im Beich Hourtin-Plage gehoben worden waren.

Über den August ist außerdem eine kleine, uns neue Erfahrung zu berichten. Am Montag, den 12. August erfolgte in der Landes ein Heusschrecken-Einfall. Es muß sich um Milliarden dieser gefräßigen, aus Nordafrika kommenden Tiere gehandelt haben. Die in Europa nich heimischen Viecher überfielen die gegend und fraßen innerhalb von wenigen Stunden alles, was grünte, kahl.

Auf die Schnelle wurde ein heuschrecken-Kommando aus unserem Lager zusammengestellt, wozu auch ich gehörte. Am 13, morgens, die Sonne durfte noch nich geschienen und die Insekten aufgewärmt haben, wurden wir mit Lkws abtransportiert. Mit Pflügen waren in den Boden vor den in der Abendkühle gelandeten Insekten Gräben im sandigen Boden gezogen worden, und wir gefangenen warteten darauf, daß die noch von der Nachtkühle flugunfähigen Tiere Kriechend in die Gräben fielen. Unsere Aufgabe war es dann, mit Schaufeln Sand auf die flugunfähigen Insekten in den Gräben zu werfen. Es sollte nicht das lezte Mal gewesen sein, daß ich als heuschrecken-Jager (chasseur de criquet) tätig geworden war.

Der September brachte 4 Briefe und ein Fresspaket.

Am Donnerstag, den 12, esplodierte in unserem Feld eine Stockmine durch selbstauslösung. Ich hatte schon beschrieben, wie es zu solchen Selbstauslösungen kommen kann. Gott sei Dank passierte keinem von uns etwas.

Für Mittwoch den 18, hatte sich eine Prüfungskommission aus Paris angesat, um wohl der Frage nachzugehen, wo die Ursache für die vielen Lagerausbrüche lag. Zwar gab es danach keine erhöhten Essenszuteilungen, doch in einem Punkt hatte man unserer Beschwerden erhört. Endlich sollte etwas gegen die Wanzenverseuchung unser Baracken getan werden.

Am15. jährte es sich, daß in Hourtin-Plage das Minensuch-Kommando bestand. In dem als „Drachenfeld“ genannten Gebiet waren in dieser Zeit 35 280 Minen gehoben und entschärft worden.

Montag, der 30. brachte uns endlich die erhoffte große Wanzenvergasung. Um einmal zu verdeutlichen: Die sogenannten Bettwanzen sind Insekten, die Blut saugen und wenn man sie findet und knackt, elendiglich stinken. Und mit die Plagegeistern waren alle Baracken fürchterlich befallen. Zu Beginn fing man nachts die von der Holzdecke sich herabfallen lassenden Tiere und knackte sie zwischen den Fingern. Doch kamen wir bald durch den Gestank ihres Drüsensekrets schnell davon ab. Man fing sie nur noch und knallte sie mit kraftvollem Wurf auf Holzfußboden, wo sie knackend zerbarsten. Es war also kein Wunder, daß der Boden in den Baracken, und rundum die hölzernen Doppelbetten, mit Blutflecken übersät waren. Hatte man sie nicht rechtzeitig erwischt, so bissen sie sich in die Haut der Schlafenden mit dem Ergebnis, daß man am nächsten Morgen mit geschwollen Gesicht, sich immer kratzend, zum Appell kam.

Doch sie ließen sich nicht nur von der Barackendecke fallen, sie nisteten sogar auch in den hölzernen Betten selbst. Wir versuchten uns nachts zu schützen, indem uns auch zum Schlafen voll angezogen auf die Pritschen legten. Aber nach mehr einem Jahr Gefangenschaft waren unsere Wehrmachtsklamotten entweder zu Fetzen verkommen, oder wir hatten,

um sie zu schonen, zwischeneitlich Ersatz durch Uniformteile aus US- Beständen erhalten. Auch Wolldecken oder Schlafsäcke ehemaligen amerikanischen Beständen waren dabei. Ich kroch abends immer in meinen Schlafsack, rieb mein Gesicht mit einer amerikanischen, blaßroten Desinfektionsseife ein, wickelte mir noch ein Tuch um den Hals, zog eine Kapuze über den Kopf und war dann wie eine Mumie damit gegen die Außenwelt verpackt. Es half, aber nicht immer! Die Viecher fanden auch den Weg in den Sack hinein. Es war halt eine Plage, die mit gelegentlichem Ausräumen der Holzbetten ins Freie,wo alle Fugen dann über einem Feuer ausgebrannnit wurden, nicht beherrscht werden konnte. Der Nebeneffekt war außerdem, daß man sich an dem angekohlten Holz immer dreckig machte.

Doch wie gesagt, am Montag, dem 30. wurde endlich Ernst gemacht. Alles, was der Vergasung nicht ausgesetzt werden durfte, wurde aus den Baracken heraus ins Freie gebracht. Fugen, Fenster und Türen wurden abgedichtet, und die Baracken wurden dann mit einem Gas von dem Ungeziefer freigemacht. Dafür schliefen wir alle gerne eine Nacht im Freien.

Nur 2 Tage später, am Mittwoch, den 2. Oktober 1946 sollte unsere Gruppe durch ein schweres Unglück heimgesucht werden. Meine Kameraden waren immer noch am Feld X, während ich selbst auf der Zuführungsschneise an diesem Morgen mit einem Kameraden beim Wegräumen von Holzschnitt war. Wir hörten eine Detonation; sie kam aus der Richtung unseres Minenfeldes, und wir ahnten Schlimmes. Wir eilten zu unserer Gruppe und fanden unseren Kameraden Rolf Klausing, einen Thüringer, tot auf dem Waldboden liegen. Eine detonierende Stockmine hatte ihn so schwer verletzt, daß er auf der Stelle tot war. Mehrere Betonstücke, teilweise faustgroß, hatten ihn wohl aus nächster Nähe so getroffen, daß diese in Brust und Oberkörper eingedrungen waren. Wir standen alle vor einem Rätsel. Wie konnte dieses Unglück passieren? Hatte sich Rolf außerhalb des Trassierbandes bewegt? Warum dann? Oder war er unvorsichtig und hatte sich von einem vollen Brombeerstrauch verlocken lassen, um an die Beeren zu kommen? Wir sollten es nicht mehr klären

können.

Wir brachten unseren toten Kameraden zurück ins Lager, wo er in einer Baracke aufgebahrt wurde, welche auch für Messen eines katholischen oder evangelischen Pfarrers an den Wochenenden diente, und die auch gelegentlich für kulturelle Veranstaltungen genutzt wurde.

Mit meinen Barackenkameraden stand auch ich Ehrenwache an seinem Sarg bis zum Einbruch der Dunkelheit. Nur einen Tag später wurde unser Kamerad Rolf Klausing auf dem Friedhof des nahen Dorfes Hourtin beigesetzt, eine Beerdigung, an welchem das ganze Deminagelager teilnahm.

lm jahre 1992 weilte ich, von Südfrankrelch kommend, nochmals in Hourtin und suchte vergebens das Grab von Rolf Auch ein alter Friedhofsgärtner konnte mir nichts von einem Grab Klausings sagen. Meine Bemühungen bei der Gemeindeverwaltung Näheres über Klausings Grab zu erfahren, waren ebenso fruchtlos. Die um Hilfe gebetenen Personen auf dem Bürgermeisteramt schienen mir leider desinteressiert.

Hourtin-Plage war übrigens auch nicht wieder zu erkennen. Dort, wo früher die Baracken standen, war Wald und Buschwerk, genauso, wie ich es kannte, nur ein wenig lichter. Auf dem Weg zum Strand standen nun Snack-Bars, Geschäfte, SouvenirLäden und Häuser. Es gab hier keinen, der wußte, daß vor vielen jahrzehnten hier einmal hunderte von Kriegsgefangenen jeden Meter Boden systematisch abgeklopft hatten.

Sonntag der 13. Oktober. Es gab wieder ein wenig Abwechslun im Lager.“Varieté“ hatte sich angesagt. Natürlich waren diese Distraktionen immer Gefangenen-Eigenbau.

Außer 3 Briefen erhielt ich im Oktober noch 2 Pakete, unter letzteren eines aus Paris. Auch dieses enthielt Lebensmittel. Sie wurden mir von der Familie eines französischen Besatzungssoldaten namens Francois Roché, geschickt, einem jungen Soldaten in meinem Alter. Er wollte sich damit meiner Mutter gegenüber erkenntlich zeigen, da sie ihn „an Sohnes statt“

bemuttert hatte. Ich sollte diese liebenswerte Familie im jahre 1952 anläßlich meiner Hochzeitsreise, in Paris noch kennenlernen.

Die Verpflegung im Lager verbesserte sich ab Mitte Oktober 1946 beträchtlich. Täglich bekamen wir jetzt 20 gr. Fett, 375 gr. Brot, 800 gr. Kartoffeln, 50 gr. Fleisch, 17 gr. Zucker und 3 gr. Käse, und dazu noch die Wickensuppe, immerhin eine Tagesmenge mit nun über 2100 Kalorien! Auch gab es monatlich nun 120 gr. Tabak. An Kantinenware gab es allerdings seit Monaten nichts zu kaufen.

Tabak wurde von mir immer in französische Franken umgetauscht. Mal verkaufte ich die Tabakzuteilung an unsere marokkanischen Bewacher, oder es fanden sich auch schon mal Kameraden, die mir meine Rauchwaren gegen Franken abkauften. Aus der Heimat konnten seit Oktober auch monatlich bis zu 2 Pakete à 5 kg an Kriegsgefangene in Frankreich geschickt werden, doch ist es sicher, daß Sendungen nicht immer und manchmal durchwühlt und nicht mehr vollständig die Empfänger erreichten. Der November brachte mir 11 Briefe und ein Paket von zu Hause.

Es war ein Monat, in dem wiederum 3 Kameraden bei einer Minenexplosion schwer verletzt wurden. Sie ereignete sich am Donnerstag, den 7. November, als in der Gruppe 7 eine S-Mine (Springmine) ausgelöst wurde. Diese Minen sind besonders gefährlich. Sie bestehen aus einer Treibladung und einer Ladung aus einer Mischung von Dynamit und Stahlkugeln. Ob die Mine durch Zug oder Druck ausgelöst wurde, war nicht klärbar. In der Regel waren die S.-Minen 35 mit einem Druckzünder versehen, der bereits ab 3 kg Belastung detonierte. Bei Auslösung katapultierte eine geringe Treibladung die elgentliche Mine einen Meter hoch. In dieser Höhe setzte die zweite Explosion ein. Sie bewirkte, daß jeder,, der sich nicht sofort hinwerfen konnte, in der Körpermitte von den Stahlkugeln getroffen wurde. Wenn sich der Auslösende sofort hinwarf, konnte er sich retten, da dann der Kugelregen über ihn hinwegstob. Da bei dem Unfall aber 3 Verwundete waren, müssen mindestens 2 unbetelligte Kameraden in die Kugelstreuung hereingeraten sein.

Die Gruppe 7 war von einem ehemaligen Offizier, von Oberleutnant Kurtz geleitet worden und et war es, der seinen Verletzungen am Mittwoch, den 7. November erlag und noch am gleichen Tag in Hourtin beerdigt wurde.

Der Totensonntag, der 24. November war bedrückend und stimmte uns alle sehr nachdenklich, hatten wir doch in kurzer Zeit gar 2 tote Kameraden zu betrauern gehabt (auch sein Grab war nicht auffindbar, als ich 1992 in Hourtin danach suchte). Wenn ich bedenke, daß wir kurz hintereinander 2 Kameraden verloren, daß von meinen Klassenkameraden bereits Odin und Franz Kahl gefallen waren, wenn ich weiter bedenke, daß nach meiner Heimkehr noch viele andere meiner Schulfreunde mit schweren Verwundungen heimkehrten oder nie mehr heimkehrten, dann muß ich mich vor diese ganz besonders stellen. Zu Beginn 1997 hatte mit Hilfe von Herrn Reemstma eine Ausstellung in Deutschland gestartet unter dem Titel „Verbrechen der Wehrmacht“. Waren meine gefallenen, verwundeten Freunde denn Verbrecher? Waren auch wir, die wir noch von der Schulbank in den Krieg zogen denn nur Mitglieder einer verbrecherischen Soldateska? Warum dieser ausschließliche Titel, Herr Reemstma? Warum haben sie nur in dieser Richtung das Recherchierte gezeigt? Sie, der sie doch selbst Fürchterliches erlebten, hatten sie die Sensibilität verloren, die gerade hier hätte gezeigt werden müssen.? Hätte die AussteIlung bei Verwendung des Begriffes „Wehrmacht“ offen den Schwerpunkt auf die Verantwortung seiner Spitze gelegt, so hätten Millionen ehemaliger

Soldaten, Offiziere wie Mannschaften, hiermit noch einverstanden sein können.

Samstag der 30. November brachte uns wieder eine Varietée-Vorstellung, natürlich alles wieder unter uns arrangiert, und da hierbei natürlich auch keine Damenauftritte fehlen durften, wurden diese von entsprechend hergerichteten Kameraden dargestellt. Dies war nicht immer schwer, gab es doch auch Kameraden, welche gewissen Versprechungen und Verlockungen des einen oder anderen marokkanischen Bewachers nachzukommen geneigt waren, und die sich für solche „Damen“- Rollen

sehr gerne zur Verfügung stellten. Nicht unerwähnt soll sein, daß gerade ab der Zeit, als die Verpflegung merklich besser wurde, es auch schon zut Bildung von Homo-Päarchen kam.

Man soll bedenken, daß ein Lagerleben, über Monate und jahre dauernd, mancherlei Einfallsreichtum entwickelte. Nicht nur Resignation, sondern auch Trotz war unter den Gefangenen zu finden. Es gab solche, welche sich völlig gehen ließen und am Verwahrlosen waren. Andere kämpften gegen den Hunger an, indem sie gar die Samen von Tannenzapfen sammelten und aßen. Wer nach seiner Tagesarbeit nicht ganz vergammeln wollte, suchte sich eine Betätigung, die eventuell mit Lebensmittel bezahlt wurden! Ich habe in unserem Lager Kameraden gekannt, die aus Holz die schönsten Schachspiele herstellten, die sich Musikinstrumente, z.B. Gitarren bauten und die aus Blechdosen Schatullen und Schmuckstücke fertigten in einer Vollkommenheit, daß sich einmal unser Lagerchef zu der Äußerung hinreißen ließ, man brauche den Gefangenen nur paar Blechdosen zu geben und es würde nicht lange dauern, bis sie daraus ein Maschinengewehr gebaut hätten.

Ich selbst hatte mich darauf verlegt, die französische Sprache zu erlernen, welche ich ja auf der Penne nur in den einfachsten Grundlagen mitbekommen hatte. Ich paukte die Vokabeln so intensiv daß ich ab 1947, wie noch zu berichten ist, davon manchen Vorteil haben sollte.

Der Monat Dezember bescherte mir 3 Briefe und ein Paket.